Wie bekommt man ein Kamel mit GNSS durch ein Nadelöhr
Case study
Autor: Beate Wesenigk
Die zur MEYER Gruppe gehörende NEPTUN WERFT baut riesige schwimmfähige Objekte: FERUs (Floating Engine Room Units) sind die Maschinenraummodule und damit Herzstücke der Kreuzfahrtschiffe, für die die Papenburger Werft weltweit bekannt ist. Die FERUs werden nicht in einem Trockendock gebaut, sondern oberhalb des Wasserpegels in unterschiedlichen Fertigungshallen. Damit der Höhenunterschied von zwei Metern überwunden werden kann, wurde eine schwimmende Absenkvorrichtung (ASV), entwickelt. Um FERUs sicher aus den Hallen und aus der ASV zu manövrieren kommt GNSSTechnologie von Leica Geosystems zum Einsatz.
Blindes Vertrauen vorausgesetzt
Die ASV ist ein verschiffbares Schwimmdock. Sie setzt sich aus einem Stahlbeton-Ponton und Aufbauten zusammen. Der Schwimmkörper ist 150 Meter lang, 55 Meter breit und 7,5 Meter hoch. Im Ponton befinden sich Wassertanks. Mit Stahlseilwinden werden die FERUs beim Dockvorgang fixiert. Die Steuerzentrale der ASV ist der Leitstand. Er befindet sich auf dem vorderen Aufbauturm auf der Steuerbordseite. Von hier aus können alle Systeme kontrolliert und gesteuert werden.
Beim Abtransport wird das FERU zunächst in der Fertigungshalle mit einem Hydrauliksystem hoch“gehoben“. Entlang einer silikonbeschichteten Bahn gleitet es über Land bis an die Kaikante zur hier im Wasser liegenden ASV. Wenn das Schiff auf die ASV verschoben ist, manövrieren Schlepper den nun mehr als 40.000 Tonnen schweren Koloss über die 16 Meter tiefe Dockgrube. Da angekommen wird die ASV zentimetergenau positioniert und so gesichert, das nur noch das Ab- und Auftauchen möglich ist.
Die Tanks werden geflutet und die ASV sinkt. Von den insgesamt 18 Metern Höhe der Aufbauten schauen nur noch zwei Meter aus dem Wasser heraus. Sobald ausreichend Wasser auf dem Deck ist, kommt das OK für die Schlepperkapitäne. An Bug und Heck des FERU wird jeweils ein Schlepper fest vertäut.
Der Ausdockvorgang gleicht dem Gang eines Kamels durch ein Nadelöhr: Der Abstand vom auszudockenden Schiff zu den Aufbauten beträgt maximal 120 Zentimeter. Weder die Schlepperkapitäne noch der Lotse, der oben auf dem FERU steht, können sich an Steuer- oder Bachbordseite orientieren; der Heckkapitän sieht nur eine große graue Metallwand meterhoch und -breit vor sich aufragen. Beide Kapitäne müssen dem Lotsen blind vertrauen. Man muss also ganz genau wissen, wie die genaue Position des FERU auf der ASV ist, sonst berührt es die Aufbauten und es entstehen große und teure Schäden am FERU und der ASV.
GNSS-Technologie aus dem Tiefbau im Einsatz
Ein GNSS-gestütztes Messverfahren mit Leica Geosystems-Technologien unterstützt alle Vorgänge. Auf den steuerbordseitigen Aufbauten der ASV wurden an Bug und Heck jeweils eine Mehrfrequenz-GNSS-Antenne montiert und der dazugehörige Dual-Empfänger Leica iCG80 im Leitstand eingebaut. Mit dieser Installation, die Leica Geosystems ursprünglich für den Einsatz auf Baumaschinen im Tiefbau entwickelt hat, kann nicht nur die genaue Position festgestellt, sondern auch die Richtung der Bewegung sehr genau dargestellt werden. Anschließend wurde mit einer tachymetrischen Aufmessung mit einer Leica Nova TS60-Totalstation die relative Lage der Antennen im Bezug zur ASV einmalig bestimmt. Auf einer der Werfthallen, relativ geschützt und an einem präzise eingemessenen Festpunkt, wurde in Form einer Leica Viva GS10 ein hochpräziser Empfänger installiert.
FERU 1396, das erste ausgedockte Maschinenraummodul, wird das Herz eines der neuesten Kreuzfahrtschiffe des größten Kreuzfahrtanbieters weltweit bilden. Zwei iCG80-GNSS-Empfänger wurden zunächst auf den eingemessenen Positionen auf der ASV befestigt und der Empfänger im Leitstand in Betrieb genommen. Mithilfe dieser Installation war es möglich, das FERU aus der Halle auf die exakte Position auf der ASV zu verschieben. Für das Ausdocken des FERU aus der ASV wurden beide Antennen auf dem FERU montiert.
Die Software für die Steuerung der ASV im Leitstand verknüpft GNSS-Daten, terrestrische und maritime Karten so miteinander, dass die Live-Daten und die Prognosedaten zu Bewegungen der ASV und des FERU für alle an Verschiebung und Dockvorgängen Beteiligten zur Verfügung stehen. Um sofort auf Veränderungen reagieren und entsprechende Anweisungen erteilen zu können, verwenden die Lotsen und Schlepperkapitäne Leica CS35-Tablets. Lotsen und Schlepperkapitäne sehen auf ihren CS35-Tablets neben den Live-Daten und den Bewegungsprognosen auch ganz genau, wie viel sie nach steuer- und backbord steuern müssen, um schadensfrei aus der ASV zu fahren.
Die Fahrt von FERU 1396 aus dem Nadelöhr der ASV dauerte nur 10 Minuten – bei dieser Windstärke eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, weil das FERU aufgrund seiner Größe dem Wind zu viel Angriffsfläche bietet, um es sicher auszudocken.
Schneller + Flexibler = Profitabler
Die MEYER Gruppe arbeitet bereits seit vielen Jahren zufrieden und erfolgreich mit verschiedensten Vermessungslösungen von Leica Geosystems. Im Rahmen der Konzeptionierung wurden GNSSLösungen von verschiedenen Anbietern geprüft. Hauptkriterien waren:
- Genauigkeit der Positionierung mit der Gesamtlösung von 2-3 Zentimetern auch auf beweglichem Untergrund
- Unempfindlichkeit gegen Umweltfaktoren, wie Temperaturschwankungen und Salzwasser
- draht- und funklose Datenübertragung.
Letztendlich entschied sich das Vermessungsteam um Fachbereichsleiter Ralph Zimmermann für die Leica Geosystems-Lösung. Die iCG80-Empfänger, für die robusten Anforderungen auf Tiefbaustellen entwickelt, arbeiten auch bei Temperaturen zwischen -20°C und + 40°C störungsfrei und sind spritzwasserresistent.
Lars Wegener, Vermessung NEPTUN WERFT, und sein Kollege Kevin Schemmel melden norddeutsch knapp: „Die Verschiebung von 1396 verlief zufriedenstellend.“ Zimmermann wird da schon etwas prosaischer: „Wir haben mit dieser Technologie im wahrsten Sinne des Wortes Großes bewegt. Auch hier hat sich das Motto der MEYER Gruppe ‚Zusammen sind wir stärker‘ bewährt, denn neben Kollegen beider Werften waren auch viele Spezialisten beteiligt: Experten für nautische Kartentechnik, klassische Küstennavigation und Schleppertechnik.“
Das System bietet für die MEYER Gruppe eine Reihe von Vorteilen sowohl für aktuelle Aufgaben als auch für zukünftige Projekte. Das komplette Verschiebungs- und Ausdockverfahren wird sicherer, denn die präzisen Live-Positionen, Bewegungsprognosen uns Berechnung von Schleppersteuerungen verhindern verlässlicher Kollisionen. Darüber hinaus sind auch Verschiebe- und Ausdockmanöver für Objekte möglich, die an Bug und Heck über die ASV hinausragen. Die Schnelligkeit, Präzision und die Zuverlässigkeit bei Wetterunabhängigkeit passen zu den Plänen der MEYER Gruppe, ab 2019 drei Kreuzfahrtschiffe in Papenburg und künftig zwei in Turku pro Jahr zu bauen.